Meine Kolumne aus dem Jahr 2009
Von Frankfurt aus die Welt entdeckend, in kleinen Stücken versteht sich, zeigt sich ein Weg, der wieder nach Frankfurt führt. Besser gesagt: Hier begann.
Und so beginne ich zurückkehrend von dem kleinen Stück festem Sand im Meer Julia Francks Die Mittagsfrau zu lesen, der Zusammenhang fiel erst nach der Reise auf.
Zum Titel des Buches erklärt Julia Franck, dass es sich bei der Mittagsfrau um eine alte Legende aus der Lausitz handelt. Man erzählt sich, dass immer zur Mittagszeit zwischen 12 und 14 Uhr eine weiße Lichtgestalt mit einer hocherhobenen Sichel erscheint. Sie köpft oder verflucht all die Menschen, welche zur Mittagszeit arbeiten. Die einzige Möglichkeit, ihrem Fluch zu entkommen ist, ihr eine Stunde lang von der Verarbeitung des Flachses zu erzählen. Daraus zieht Franck den Schluss: „Erzählen kann lebensrettend sein“. In ihrem Werk widersetzt sich die Protagonistin Helene diesem Dogma. Sie flüchtet sich ins Schweigen, welches nach und nach zu ihrem Erkalten führt, zur „Erkältung am Herzen“, genauso wie vorher bei ihrer Mutter (Zitat:>>>).
Erzählen kann lebensrettend sein, der Gedanke ist mir nah. Oder aber: einfach um die Mittagszeit nicht arbeiten, die Füße gegen`s Schilf hängen, die flugschnellen Wolken am Himmel betrachten. Bedrohungslose Zeit an der See. (Wo wir wieder bei Frankfurt wären, der Stechuhr-Stadt, mit den möglicherweise zu kurzen Pausen.)
Der Roman beginnt mit Möwen über den Ostseewellen und endet mit einem tröstlichen Blick auf die Krümmung des Horizonts an der Steilküste Fischlands. Dazwischen spielt er jedoch woanders, in der Lausitz zunächst, dann in Berlin und Stettin und zeigt Frauen, trauernde Frauen, die sich dem Erzählen, dem erzwungenen wie dem hilfreichen verweigern. Die Verweigerung des erzwungenen Mitteilens hüllt sie in eine silbrige Aura des einsamen Widerstehens, das Fehlen des hilfreichen Erzählens steigert die Trauer ins Unermessliche.
Ich erzähle mir selbst Geschichten, nachdem ich wieder da bin. Ingeborg Hunzinger, die Großmutter Julia Francks, hat in Ahrenshoop gewichtige Skulpturen hinterlassen. Am 19. Juli 2009 starb sie 94-jährig in Berlin. Eine lebensmutige Frau war sie, scheint es, deren Schicksal als Jüdin und Kommunistin Züge der erzwungenen Wege der Helene im Roman vorgegeben haben mag. Ihre Persönlichkeit wird eine ganz andere gewesen sein.
Geprägt habe ihre künstlerische Orientierung der Großvater, Philipp Franck. Ein gebürtiger Frankfurter, Städelschüler und Mitglied der Kronberger Malerkolonie, der später in Berlin ansässig wurde als Reformpädagoge und Mitbegründer der Berliner Sezession. Wie der Zufall es will oder eine Geschichte, die erzählt werden kann, zeigt dieser Tage das Museum der Kronberger Malerkolonie die erste Einzelausstellung mit Werken Philipp Francks seit 25 Jahren.